Lässt sich ein Rettungsschirm für den wissenschaftlichen Nachwuchs spannen?
Etwa 1300 km legten jüngst Studierende der Dortmunder Partnerstadt Novi Sad aus Serbien auf dem Fahrrad im Rahmen einer Protesttour nach Straßburg zurück, um dort vorm europäischen Parlament und dem Europarat auf die Situation in ihrer Heimat hinzuweisen. Sie kritisieren neben der Korruption auch die Beschränkung elementarer demokratischer Rechte und die Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze.
Autokratische Regime fürchten dabei die Wahrheit und mutige Bürger*innen. Ihr Herrschaftssystem fußt auf der Manipulation der Massen, Gewalt, gezielten Lügen und der systematischen Verbreitung von Angst. In den Übergängen zur Autokratie müssen daher die Institutionen, die Wahrheit und Lügen noch zu trennen wissen, unmittelbar unter Druck gesetzt werden. In Ungarn zu Beginn der Herrschaft Orbans waren das der freie Journalismus, Teile der Zivilgesellschaft und die Hochschulen. Auch nach der Machtübergabe an Trump in den USA zeigt sich dasselbe Bild. Die Manipulation erfolgt über die sozialen Medien und durch den Ausschluss kritischer Medien. Der Zivilgesellschaft wird gedroht und die Hochschulen unter einem lächerlichen Vorwand massiv unter Druck gesetzt. Umso bedrohlicher für jede Form der Freiheit ist es, wenn gleichzeitig die politische Opposition versagt und das Justizsystem im Zweifel missachtet wird oder rasch mit Befürworter*innen der autokratischen Herrschaft bestückt wird. Was vor wenigen Jahren noch wie eine düstere Dystopie erschien, ist in mehreren Ländern des Westens heute schon Realität und auch in Deutschland zu einer von mehreren realistischen Varianten der Zukunft geworden.
Wiederkehrende Muster erkennbar
Blickt man nun auf die konkreten Folgen von Hochschulen unter solchen Druckfeldern, zeigen sich einige wiederkehrende Muster. Hochschulleitungen reagieren auf einer Skala zwischen Unterwerfung und Anpassung bis zum Widerstand. Prominente Wissenschaftler*innen erhalten Rufe aus sicheren Staaten und verlassen ihre Hochschulen. Andere werden entlassen und kommen nirgends unter. Was zumeist weniger beachtet wird, sind die stillen Folgen der Anpassung von Forschung und Lehre unter die neuen Gegebenheiten. Auch in Autokratien wird in Hochschulen Wissen erarbeitet – im Zweifel aber nur herrschaftskonformes Wissen, mal im Einklang und mal im Widerspruch zur Wahrheit. Über deren Herleitung und Verbreitung entscheiden dann nicht Fakten und Beweise, sondern politische Beamt*innen.
Nicht beachteter wissenschaftlicher Nachwuchs
Verdrängt und nicht beachtet wird aber jener wissenschaftliche Nachwuchs – egal auf welcher Ebene der Qualifikation – der sich nicht herrschaftskonform verhält, sondern sich z. B. einer wissenschaftlichen Ethik verpflichtet fühlt. Deren Karrieren enden, bevor sie begonnen haben. Sie verschwinden unter dem Radar der Öffentlichkeit und wären doch der unbedingt schützenswerte Nachwuchs einer wissenschaftlichen, aber auch einer demokratisch-rechtsstaatlichen Erneuerung.
Das könnte nun auch auf die mutigen Studierenden in Novi Sad zukommen. Vielen droht damit das Schicksal ihrer früheren polnischen und ungarischen Kommiliton*innen. Ihre Themen werden nicht zugelassen, sie werden von den Hochschulen verwiesen oder haben nach dem Studium keine Aufsicht auf weitere Qualifizierungsstellen. Im Zweifel traut sich niemand, ihre Promotionen zu betreuen oder ihnen Stellen anzubieten. Zu groß ist die Angst vor den vagen oder auch konkreten Folgen eines solchen Tuns.
Netzwerk der Solidarität und Unterstützung notwendig
Gerade dieser akademische Nachwuchs bräuchte jetzt ein Netzwerk der Solidarität und Unterstützung. Ließe sich das nicht mit etwas Mut spannen? Wissenschaft gibt es nur international und auch Solidarität kennt keine nationalen Grenzen. In meiner Fantasie schließen sich engagierte Hochschulen und Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Fachbereichen, Ländern und Nationen in einem Netzwerk zusammen. Sie bieten unkompliziert, online, kostenlos und barrierearm Beratung und Unterstützung für all jene an, die aufgrund ihrer akademischen Prinzipien keine Zukunft mehr in ihren Ländern und Heimathochschulen sehen. An die Stelle eines Wettrennens der Hochschulen um die vermeintlich „besten Köpfe“ bieten hier erfahrene Kolleg*innen ihr Wissen und ihre Zugänge für jene an, die in ihren Ländern keine Perspektive mehr sehen. Vielleicht ließen sich auch europäische Promotionskollegs und Stipendien finanzieren? Ein Anerkennungsbüro könnte jenen helfen, die ihre Studiengänge aus politischen Gründen nicht abschließen konnten. Meine Idee ist ein europäisches Netzwerk akademischer Solidarität zugunsten einer freien und damit auch fast immer herrschaftskritischen und unbequemen Wissenschaft und ihrer zukünftigen Köpfe. Die Studierenden von Novi Sad können übermorgen die in Paris oder Berkeley und irgendwann auch die in Dortmund sein. Die Angriffe auf die Wissenschaft sind offensichtlich - die konkrete Abwehr zeigt aber noch gravierende Lücken auf, und europäische Solidarität sollte ein Baustein einer solchen Verteidigungsstrategie sein.